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Ein Fenster zu den Bergen

Die Grundstrukturen dieses Wohnhauses im Dorfzentrum von Scuol im Engadin sind mehrere hundert Jahre alt. Ein massiver Eingriff in die Bausubstanz hat aber in den 70er Jahren zu tiefgreifenden Veränderungen der Struktur beigetragen und manifestiert sich nach Aussen prominent in auskragenden Balkonkonstruktionen. Ihr dem Schweizerchalet-Stil entliehener Charakter stellt dabei ein im Dorfbild keineswegs seltener Fall dar und prägt vor allem auch weiterhin den Ausdruck des einen, unmittelbar angrenzenden Gebäudes.

 

Vor dem Hintergrund einer notwendig werdenden Sanierung der Betonkragplatten im MFH Plazzetta tauchte der Wunsch der Bauherrschaft nach einer grundsätzlichen Neugestaltung der Balkone und damit einhergehend, die Forderung nach mehr Licht, Luft und Sonne im ansonsten typischerweise hermetischen Engadinerhaus auf. Die „modernen“ Ansprüche ans Wohnen und die an sich für ein körperhaftes Engadinerhaus antagonistische Forderung nach der Verbindung von Innen und Aussen stellte ein architektonisch interessantes Problem.

 

Die Entwurfsstrategie gründete dabei von Anfang an auf dem Glauben, dass die massiven Eingriffe aus den 70-er Jahren ihre nachhaltigen Spuren hinterlassen hatten und das Prozesshafte zur Teilidentität des Gebäudes gehört. Ein denkmalpflegerisches Remake oder ein Rückbau in einen früheren Zustand war ausgeschlossen und trotzdem blieb die Fragestellung in Bezug auf das labile Gleichgewicht zwischen Wand und Öffnung im kristallinen Gebäudekörper heikel.

 

Der neue Eingriff sucht nach einer Transformation und Verfremdung der bereits verwendeten Gestaltungsmittel. So wurden die typischen Laubsägearbeiten der Balkongeländer aus den 70-er Jahren (Schweizereien!) als entwurfsgenerierendes Element genommen und neu interpretiert.

 

Die Schnitzereien ihrerseits haben durchaus Geschichte, die weiter zurückreicht: sie entspringen ursprünglich der Gestaltung von Lüftungsöffnungen für Nutzbauten. Diese funktionalen Belüftungsorte verwandelten sich über die Zeit in ein architektonisches Element. Die Entlüftungsöffnung wurde als wichtig genug erachtet, um sie als Gestaltungselement einzusetzen, ähnlich einer Fassade „all’italiana“. In Italien ist es das kluge Arrangement von Ziegelsteinmasse und Leerraum, die den Mauern materielle Tiefe verleiht (vgl. Abb.).

 

Das Thema der „grigli“ wird zum zentralen Entwurfsmoment. Das Giebelfeld wird zum Ornament, das an die verborgenen Anstrengungen der dahinterliegenden Statik erinnert. Die Durchlässigkeit der Brüstungsbretter schafft die gewünschte Transparenz zum Aussenraum.

 

Giebelfassade und Brüstungsbretter werden durch ein schubladenartiges Rahmensystem gefasst und miteinander zu einem Ganzen verbunden. Das aus den astfreien Lärchenbrettern ausgesägte Ornament ist derart, dass es an ein Strickmuster erinnert; erst auf den zweiten Blick wird klar, dass es sich nicht um eine skulpierte Holzplattenkonstruktion handelt. Die massiven Bretter sind es, die, zueinander in Beziehung gesetzt und gefasst, das Spiel von Schatten und Licht ins Haus tragen.

 

Der Balkon wird zu einer Art Balustrade, deren Kompaktheit und Entwicklung aus dem Holzfassadenteil heraus entspringt. Ihre Identität basiert auf der Verwendung einer traditionellen Bauweise, die in ihrer Art so verfremdet wird, dass sie ihre eigenartige Verwendung in der Schweizergeschichte des letzten Jahrhunderts impliziert und aber auch kommentiert. Durch die Einbindung des grossen Schiebefensters in die Holzkonstruktion tritt dieses wie selbstverständlich in den Hintergrund ohne die bestehenden, kleinen Fenster im Mauerwerk zu desavouieren.

 

Umbau in Etappen

Den westlichen Hausteil bauten wir bereits 1998 umfassend um und beleuchteten diesen über punktuell gesetzte Oblichter besser. Der Eingriff aus dem Jahr 2004 betrifft das Wohnzimmer und die Neugestaltung von Fassade und Balkon. Der Grundriss zeigt die schwierigen Verhältnisse zwischen Wand- und Fensteranteilen. Das neue Schiebe-Fenster im Wohnzimmer weist eine Spannweite von 6.50m auf; dafür musste die ganze bestehende Giebelfassade und das darauf aufliegende Dach neu abgefangen werden.

 

Statik und Konstruktion

Die grosse Spannweite (6.5m) für das stützenfreie Schiebefenster und die damit verbundene Abfangung der bestehenden Giebelfassade und des Daches bedurfte einer statisch austarierten Konstruktion. Diese besteht aus einem INP-Stahlträger, welcher seitlich auf die neu gesetzten Holzfensterstöcke aufliegt; die von den Dachpfetten gebrachten Lasten des Daches werden über ein Hängewerk aus Holz optimal auf den Stahlträger verteilt und so abgeführt. Dass die Funktion des Schiebefensters nicht von den Verformungen der unkonstanten Lasteinwirkungen gestresst wird sorgt ein separates, von den Dachlasten unabhängiges Tragwerk im inneren Fassadenbereich.

 

Das Tragwerk an sich ist, wie das ganze Gebäude, eine hybride Konstruktion, die aus einer Kombination von traditionellen Elementen in Holz und kontextfremden, schlanken Stahlelementen aufgebaut ist. Um in der vorgefundenen Struktur ein grosszügiges Fenster zu ermöglichen bedurfte es konstruktiv (und im Bauablauf - Einbringung der Träger!) einer enormen, versteckten Anstrengung. Nur die nobilitierenden Griglibretter der Giebelfassade lassen noch etwas davon erahnen.

 

 

 

Umbau Wohnhaus Plazzetta

Scuol 1998/2004

 

Architektin:

Aita Flury

 

Ingenieure:

Conzett Bronzini Gartmann AG


Grigli

Grigli aus der Poebene